HBOs Chernobyl - Die Publikumszerstörung

HBO/Sky
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Wo HBO aktuell etwas die Liebe für das eigene Programm vermissen lässt (Stichwort: Game of Thrones), haut der Sender andererseits ein solches Brett raus: Die Miniserie Chernobyl. 

Den Piloten gibt es ab sofort auf Sky Ticket und bietet Hitchcocks Suspense-Formel in Perfektion. Klaustrophobisches Katastrophenkino der beklemmendsten Art. Erinnert euch daran, wie euch True Events-Dramen wie "United 93" zerstört zurück ließen, die erste Folge "Chernobyl" lässt erahnen, dass diese Miniserie nichts Geringeres im Schilde führt. Die absolute Zerstörung des Publikums durch kalte Fakten und schonungslose Ehrlichkeit. Ungekünstelt und ungeschönt. Unglaublich nah an den blind in ihr Verderben rennenden Figuren. Unglaublich zermürbend in Bildsprache und Ton (der Score von Hildur Guðnadóttir ist bestialisch!). Absoluter Bad-Feel Serientipp, um sich über sowjetische Ignoranz, menschliche Überheblichkeit und atomare Verblendung aufzuregen. Kudos an Showrunner Craig Mazin, Regisseur Johan Renck und ihr gesamtes Team. Ich fürchte um meine Gesundheit, sollte die Miniserie ihr Ziel erreichen, denn die Parallelen in unsere Gegenwart, in der Macht über Informationen und Fakten über Wahrheit und Realität entscheidet, ist unübersehbar. Ich glaube, danach brauche ich erstmal eine Auszeit und eine doppelte Dosis "My Little Pony".

[Nachtrag nach Abschluss der Serie] Done. Die finale Folge ist durch. Und ich mit ihr. Auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Aktuell gibt es nichts besseres im fiktionalen Serienolymp. Punkt. Dass diese Serie von ukrainischen und weißrussischen Zeitzeugen in den höchsten Tönen gelobt wird, sie die Iraner dazu brachte, die Sicherheitsstandards der eigenen Atomreaktoren zu hinterfragen und das russische Kulturministerium ohne zu zögern eine eigene Serie als Gegendarstellung ankündigte, spricht für sich. In den letzten Minuten der finalen Folge hatte ich einen fetten Kloß im Hals, weil dort eine Tür in die Gegenwart aufgestoßen wird, die man nur fürchten kann. Wissenschaft vs. Politik, Idealismus vs. Korruption. Klimawandel vs. Klimaleugnung. Was, wenn die Ideale der Wissenschaft und die Suche nach Wahrheit nicht ausreicht? Was, wenn Lügen und Eigeninteressen die Wahrheit solange behindern, bis es zu spät ist? Herrlich zermürbend, wie einem die Serie entlässt, mit einem Blick auf das Vergangene, den anderen in die Zukunft gerichtet. Dass nun Influencer und Massentouristen die Region um Prypiat überschwemmen, ist einerseits bedenklich, andererseits bedeutet es, dass die Serie wirkt und verstanden wird. Showrunner Craig Mazin, dessen künstlerisches Schaffen sich bislang auf die zwiespältigen "Scary Movie"- und "The Hangover"-Sequels reduzieren ließ, hat mit "Chernobyl" seinen persönlichen "Citizen Kane" oder "Lord of the Rings" geschaffen und dürfte nun den Rest seines Lebens damit verbringen, die immer gleiche Frage zu beantworten: Wie zum Teufel ist dir das gelungen?